Was ist neu an den Neuen Medien?

Chicago: The Loop
Chicago: The Loop
Chicago: The Loop

- Photographie gibt es seit 150 Jahren, den Film über 100, Fernsehen und Video sowie Computer seit 50, dies sind in unseren Zeit wo Trends nach zehn Jahren schon eine Renaissance erleben oder als Klassik angesehen werden sehr lange Zeiträume. Was ist es, das uns die “Neuen Medien" als Paradigma einer neuen Ära erscheinen läßt? Etwas anderes als die Technik muß sich daher grundlegend geändert haben, wenn wir von einer Umwälzung reden. (Talbot, Niepce, Brüder Lumière, von Neumann)   Ich muß daran denken, wie Jem Cohen (“Instrument" 1999, Musikvideo über Fugazzi) bei einer Diskussion auf die Frage antwortete, ob er zukünftig mit DV statt mit Film drehen werde. Er antwortete, werde bestimmt einige Sachen mit DV drehen, schon aus einer Frage des Geldes, aber er rege sich ziemlich auf, über diese Ansicht, mit DV sei nun alles neu. Das sei schließlich eine ziemlich unverschämte und ignorante Mißachtung der Arbeit all der Künstler, die schon seit 10, 20 oder mehr Jahren mit Video arbeiteten. Die Leute täten gerade so, als hätte es vor digitalem Video gar kein Video gegeben.

- Die hochwallenden Zukunftsvisionen in der Diskussion der letzten Jahre haben meiner Meinung ebenfalls wenig damit zu tun, daß wir uns als in einer durch Neue Medien veränderten Welt empfinden. Weder begeben wir uns auf Urlaub im Cyberspace, noch haben wir regelmäßigen Cybersex. Wenn wir Bewohner einer virtuellen Stadt sind, so tun wir das zum Zeitvetreib und sind uns durchaus bewußt, daß das Geld das wir dafür ausgeben, virtuelle Räume zu gestalten, nicht dazu dient, für unsere Zukunft oder Lebensumwelt zu investieren, das Einfamilienhaus am Stadtrand oder das umgestaltete Loft entspricht immernoch eher unseren privaten Lebenszielen. Das Simulacrum, die Ersetzung unserer realen Lebensumwelt durch eine virtuelle (Baudrillard) ist eher eine geistesgeschichtliche als eine alltägliche Wirklichkeit geworden. (auch: Florian Rötzer, Friedrich Kittler)

- Dennoch haben wir das Gefühl, daß in den letzten Dekaden eine Umwälzung unseres Lebens stattgefunden hat, die wir mit Neuen Medien in Verbindung bringen. Diese Umwälzung hat vielleicht gar nicht so viel mit digitaler Technik zu tun, sondern ist durch sie nur wesentlich beschleunigt worden.

- Neue Raumordnung Innenraum ­ Außenraum:
Was sich wesentlich verändert hat, läßt sich vielleicht beschreiben als neue Raumordnung. Ereignisse in der Welt scheinen uns immer direkter zu treffen, sie dringen in unsere private Welt ein über Kabelnetze, Antenne oder Satellit. Ich gehen nach Hause um mitzubekommen was geschieht und mit Leuten zu telephonieren oder zu mailen. Wenn ich Abstand und ein wenig Ruhe brauche, gehe ich dagegen woanders hin, ins Café, in die Stadt, ins Museum und lasse mein Handy zuhause.

- Gaston Bachelard “Die Poetik des Raumes" widergelesen, zeigt eigentlich wie wenig dessen Konzeption des Wohnraumes, des Zuhauses noch gültig ist: das Heim, das Haus ist nicht mehr Ort des Rückzugs und der Kontemplation, die dort verborgenen Träume erscheinen heute vorzugsweise auf dem Bildschirm.

- Medienwirklichkeit ­ Alltagswirklichkeit:
Ein weiterer zentraler Begriff (unseres Themas) ist die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Wieviel dessen, was ich als Welt betrachte, in der ich lebe, erfahre ich über Medien und wieviel über eigene Anschauung, eigenes Be-Greifen? Die phänomenologische Auffassung, daß meine Erfahrung darin gründet, was ich mit meinen Armen erreichen kann (Merleau-Ponty, “Phänomenologie der Wahrnehmung"), ist sicherlich als menschliche Grunderfahrung weiterhin gültig. Anderseits hat sich unsere Wahrnehmungskondition inzwischen so verändert, daß wir die Information aus der wir die Wirklichkeit zusammensetzen zum größeren Teil aus irgendwelchen elektromagnetischen oder digitalen Medien erfahren. Wie wir das wirklich machen, wie wir uns ein relativ stimmiges Bild de Welt zusammensetzen, darüber gibt es eigentlich noch keine weitgehenden Studien. Wir sind schließlich durchaus sehr skeptisch gegenüber den Medien und deren Manipulierbarkeit. Eine mögliche Antwort könnte der interpersonale Abgleich von Informationen im sozialen Kontakt sein. (Das Problem ähnelt dem “Binding-Problem" der Hirnforschung. Verschiedene Hirnregionen prozessieren arbeitsteilig Teile unserer Wahrnehmung ohne zentrale Steuerregion oder einer Region der bewußten Wahrnehmung/des Bewußtsein)

- Das neue an den Neuen Medien scheint also vor allem mit veränderten Raumkoordinaten (privat/ öffentlich) unseres Lebens zusammen zu hängen, sowie eines anderen Modus der Wirklichkeitserfahrung.

- Verweise:

- Wahrnehmungstheorie und Neue Medien sind eng miteinander verbunden.

-Körperliche Erfahrung bildet immernoch die Basis unserer Wahrnehmung. Sie kann damit zu einem wichtigen Bindeglied zwischen Medium und Wirklichkeit bilden. (Nicht umsonst steht gerade das Körperliche im Vordergrund der Mediendiskussion.)

- Es geht um mehr als nur die Sprache der uns umgebenden Medien zu erlernen und erfolgreich daran teilzunehmen.

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